Die Neurochirurgie zählt zu den Fachgebieten mit dem größten Besucherwachstum auf Klinikradar. Unsere Besucherinnen und Besucher interessieren sich besonders für Qualität und OP-Methoden der Wirbelsäulenchirurgie, was in Anbetracht der Häufigkeit der Wirbelsäulenoperationen kaum überrascht – allein Bandscheibenvorfälle treten über 180.000-mal jährlich in Deutschland auf. Informationen zu neuen Technologien, bzw. technischen Hilfssystemen, die Operationen unterstützen und verkürzen können, sind insbesondere auch von Patientinnen und Patienten mit Hirntumoren wie Akustikusneurinom, Glioblastom, Kavernom oder Meningeom stark nachgefragt, da innovative OP-Methoden schonendere und bessere Genesungsaussichten versprechen. Aufgrund des hohen Nutzerinteresses befasst sich dieser Artikel mit Innovationen und Trends in der Neurochirurgie. Auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neurochirurgie (DGNC) in Stuttgart konnte das Klinikradar-Team dazu Eindrücke sammeln und Gespräche mit renommierten Expertinnen und Experten führen.
Roboter-assistierte Chirurgie ist ein großer Trend innerhalb zahlreicher chirurgischer Bereiche und erfreut sich immer weiterer Verbreitung. Auch in der Neurochirurgie verspricht die Robotik schnellere, genauere OPs und größeren Komfort für Patienten (und übrigens auch für die Chirurginnen und Chirurgen). Haupteinsatzgebiete sind die Wirbelsäulenchirurgie und die sogenannte stereotaktische Neurochirurgie. In der Wirbelsäulenchirurgie helfen Roboter beispielsweise bei einer genauen und schnelleren Platzierung von Schrauben. In der stereotaktischen Neurochirurgie wird der Roboter zur histologischen Gewebesicherung bei Tumoren und für die Platzierung von Elektroden zur Ableitung von Hirnströmen bei Epilepsie oder zur Tiefen Hirnstimulation bei Bewegungsstörungen wie z.B. Parkinson eingesetzt.
Ein neues Feld sind robotische Exoskelette, also Robotersysteme, die Menschen von außen physisch (unter)stützen. Verschiedene spezialisierte Systeme können zum Beispiel die Chirurginnen und Chirurgen im OP entlasten, oder die Reha von Schlaganfall-Patienten unterstützen.
Innovationen sind auch zu vermelden in der Neurochirurgie bei Kindern, sowohl in der pädiatrischen Neurochirurgie als auch in der pädiatrische Neuroonkologie.
Beispielswiese wurden in fachübergreifender ärztlicher Zusammenarbeit zunehmend neue chirurgische Möglichkeiten entwickelt für komplexe frontobasalen (also Stirn/vordere Schädelbasis betreffende) Schädelbasis-Erkrankungen. So biete ein kosmetisch vorteilhafter Augenbrauenschnitt in der pädiatrischen Neurochirurgie einen minimalinvasiven neuen Zugang für Schlüssellochchirurgie.
Tagungspräsident Prof. Tatagiba aus Tübingen stellte weiterhin große Fortschritte der Kinderneurochirurgie bei der pränatalen Behandlung der Spina bifida vor, einer angeborenen Fehlbildung des Rückenmarks und der Wirbelsäule.
Der technologische und medizinische Fortschritt erlaubt auch eine neue Anspruchshaltung hinsichtlich der OP-Ergebnisse. Dazu gehört es, Tumore heutzutage nicht mehr nur zu entfernen, sondern auch die Lebensqualität der Patienten, etwa bezüglich Sprache und Bewegung, zu erhalten, wie PD Dr. med Kathrin Machetanz, Fachärztin für Neurochirurgie in Tübingen, im Gespräch mit uns ausführte.
Ein auf der Jahrestagung vorgestellter Innovationsansatz auf diesem Gebiet bietet intraoperatives Monitoring, also das Messen von beispielsweise Hirnnerv-, oder Gesichtsnervfunktionen während der OP. Intraoperatives Monitoring zur Erhaltung von Sprache und visuell-räumlicher Funktionen wurden auf der Jahrestagung diskutiert, z. B. neue Mapping-Protokolle und Techniken zur Darstellung der Sprache. Als vielversprechend für die präzise individuelle Beurteilung perioperativer Sprachdefizite bei Hirntumorpatienten gilt hier das AFAS (Anatomisch-funktionelle Aphasie-Screening), eine Sprachtest-Innovation des Universitätsklinikum Dresden. Diese berücksichtigt spezifische anatomisch funktionelle Störungen des komplexen Sprachnetzwerks.
Zu Beginn der Jahrestagung wurde Prof. Dr. Josef Zentner für seine wissenschaftlichen Leistungen in den Bereichen Epilepsie und intraoperatives elektrophysiologisches Monitoring sowie für seine Entwicklung computergestützter Operationstechniken ausgezeichnet.
Künstliche Intelligenz (KI) wird auch in der Neurochirurgie als Innovationstreiber gesehen. KI könnte in der Zukunft Werte interpretieren, um Vorhersagen anzustellen, die beispielsweise zur besseren adaptierten Berechnung des OP-Risikos nutzbar sind. In der OP könnte die künstliche Intelligenz dabei unterstützen, Tumorgewebe schneller zu analysieren, z.B. im Rahmen der Raman-Spektroskopie. Nach der OP könnte KI die Analyse der OP-Phasen unterstützen.
Lasertechnik ist ein Trend in der Mikrochirurgie von Hirntumoren. Bei einer Laseroperation zerstört, vereinfacht gesagt, heißes Laserlicht mit äußerst hoher Präzision das erkrankte Gewebe, was für die Patienten zudem vergleichsweise schonend sei. Zum Beispiel solle auch beim Glioblastom, dem häufigsten und aggressivsten Hirntumor, die Lebenserwartung der Patienten verlängert werden können.
Prof. Volker Seifert aus Frankfurt am Main wurde auf der DGNC-Jahrestagung für seine Forschungsleistung und Pionierarbeit in Deutschland auf dem Gebiet der Anwendung von Lasern in der Mikrochirurgie von Hirntumoren ausgezeichnet.
Photo: © Helge Schubert/Conventus
Die Deutsche Gesellschaft für Neurochirurgie e.V. ist eine Vereinigung von Ärzten und Ärztinnen der Neurochirurgie sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die zu diesem Fachgebiet forschen. Die DGNC verfolgt das Ziel Wissenschaft, Forschung und praktische Tätigkeit auf dem Gebiet der Neurochirurgie zu fördern. Die jährlich ausgerichtete DGNC-Jahrestagung ist dabei eines der Instrumente, den Austausch wissenschaftlicher Erkenntnisse und praktischer Erfahrung zu stärken.
Der diesjährige Kongress in Stuttgart durfte knapp 1.500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer begrüßen. Es wurden 399 Fachvorträge gehalten und 288 e-Poster in 56 Session und 6 Plenarsitzungen präsentiert. Über 935 eingereichte Abstracts behandelten neurochirurgische Innovationen und Trends. Tagungspräsident war Prof. Dr. med. Marcos Tatagiba, Ärztlicher Direktor der Klinik für Neurochirurgie am Universitätsklinikum Tübingen aus Tübingen, Co-Kongresspräsident war Prof. Dr. Oliver Ganslandt aus Stuttgart.
Neben der Vernetzung der deutschen Neurochirurgen untereinander misst die DGNC auch der internationalen Zusammenarbeit mit ausländischen neurochirurgischen Experten und Gesellschaften große Bedeutung bei. Partnerländer der Jahrestagung 2023 waren Brasilien und Portugal. Von der Brasilianischen Gesellschaft für Neurochirurgie, der Brasilianischen Gesellschaft für Pädiatrische Neurochirurgie und der Portugiesischen Gesellschaft für Neurochirurgie konnten über 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmer begrüßt werden.
Die DGNC legt Wert auf internationale Zusammenarbeit mit ausländischen neurochirurgischen Experten und Gesellschaften
Photo: © Helge Schubert/Conventus
Nächstes Jahr steht mit der 75. DGNC-Jahrestagung sozusagen eine Jubiläumsausgabe an. 2024 wird diese in Göttingen stattfinden unter wissenschaftlicher Leitung von Prof. Dr. Veit Rohde, Präsident der DGNC und Direktor der Neurochirurgischen Klinik in Göttingen. Wie auch 2023 in Stuttgart, wird die internationale fachliche Zusammenarbeit auch bei der DGNC-Jahrestagung 2024 gefördert durch die Zusammenarbeit mit der Tschechischen und der Kroatischen Gesellschaft für Neurochirurgie.