Prof. Dr. Christoph Siepe von der Schön Klinik München Harlaching gibt uns Einblicke in die Welt der Wirbelsäulenchirurgie. Er spricht über die Bedeutung einer individuellen Behandlung, von konservativen Methoden bis hin zu fortschrittlichen, minimalinvasiven Operationen, und deren Auswirkungen auf Patienten.
Chefarzt des Wirbelsäulenzentrums an der Schön Klinik München Harlaching
Prof. Dr. Christoph Siepe, Chefarzt des Wirbelsäulenzentrums an der Schön Klinik München Harlaching, ist Experte in der Wirbelsäulenchirurgie, und spezialisiert auf minimalinvasive Operationsmethoden. In seiner Vorgehensweise bevorzugt er konservative Behandlungsmethoden und wendet moderne, minimalinvasive Techniken an, wenn Operationen unumgänglich sind. Seit 2012 ist er in dieser Position an der Schön Klinik Harlaching tätig und hat 2010 seine Habilitation abgeschlossen. Er ist zudem Forschungsprofessor und Leiter des Instituts für Wirbelsäulenforschung an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität in Salzburg seit 2014. Prof. Siepe ist Mitglied in bedeutenden Fachgesellschaften wie der Deutschen Wirbelsäulengesellschaft, EUROSPINE, AO SPINE und der International Society for the Study of the Lumbar Spine. Herr Prof. Dr. Siepe ist gegenwärtig der Generalsekretär der Europäischen Wirbelsäulengesellschaft (EUROSPINE). Darüber hinaus engagiert er sich im Editorial Board des American Journal of Bone and Joint Surgery.
Herr Prof. Siepe, Kommen heute Schäden an der Bandscheibe häufiger vor? Was sind aus Ihrer Sicht die Gründe dafür?
Hier müssen wir sicherlich verschiedene Aspekte betrachten. Zunächst ist festzuhalten, dass degenerative Veränderungen der Wirbelsäule oft ein Teil des natürlichen Alterungsprozesses sind. Es ist nicht korrekt zu sagen, dass Patienten mit Bandscheibenschäden grundsätzlich etwas in ihrem Leben 'falsch gemacht' haben. Stattdessen spielen genetische Faktoren eine wesentliche Rolle, wobei etwa 70 Prozent der Neigung zu degenerativen Veränderungen erblich bedingt sind, wie auch Zwillingsstudien gezeigt haben. Äußere Einflüsse wie Rauchen und Übergewicht tragen ebenfalls zu Bandscheibenschäden bei. Diese Faktoren können den Verschleiß an Bandscheiben, Wirbelsäule oder Wirbelgelenken beschleunigen. Derartige Veränderungen können die Ursache für Rückenschmerzen darstellen.
Dabei kann man sich die in der Wirbelsäule im Wirbelkanal verlaufenden Nerven wie ein Stromkabel vorstellen: Wenn es zu einer Kompression der Nerven kommt, etwa durch eine Vorwölbung oder Vorfall der Bandscheibe oder durch eine Verengung des Kanals wie bei einer Spinalkanalstenose, dann entstehen Nervenschmerzen mit einer Ausstrahlung in die Beine die äußerst quälend sein können.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Zunahme von Bandscheibenschäden auf eine genetische Prädisposition einerseits und den Lebensstil andererseits zurückgeführt werden können, so wie auch bei anderen Erkrankungen.
Sie leiten das Wirbelsäulenzentrum an der Schön Klinik München Harlaching. Wann wenden sich Patienten an Sie und Ihre Klinik?
Unser Wirbelsäulenzentrum an der Schön Klinik München Harlaching ist bekannt und wird von Patienten mit einem breiten Spektrum an Erkrankungen der Wirbelsäule aufgesucht. Unsere Expertise erstreckt sich vom Kopf bis zum Becken und umfasst sämtliche chirurgische Eingriffe, die sowohl von hinten als auch von vorne am Wirbelsäulenbereich durchgeführt werden können. Wir sind besonders stolz darauf, dass wir unterschiedliche operativen Techniken anbieten können, die von minimalinvasiven kleinen Eingriffen mit nur 6mm Schnittlänge bis hin zu großen Operationen bei Skoliose reichen. Ein wesentlicher Teil unserer Arbeit umfasst die Behandlung von Fehlbildungen bei Kindern, insbesondere Skoliose, sowie die Versorgung von chronischen Schmerzpatienten und die Durchführung von traumatischen sowie degenerativen Operationen. Jährlich führen wir ca. 2.500 operative Eingriffe durch, was unsere umfangreiche Erfahrung und Expertise in diesem Bereich unterstreicht. Neben unseren chirurgischen Leistungen bieten wir auch ein breites Spektrum an konservativen Wirbelsäulenbehandlungen an, wie Infiltrationen und Schmerztherapie. Wir legen großen Wert auf eine interdisziplinäre Herangehensweise, bei der Experten aus verschiedenen Bereichen wie der Neurologie und Rheumatologie zusammenarbeiten, um unseren Patienten eine ganzheitliche und individuell abgestimmte Behandlung zu bieten.
Wann empfehlen Sie Patienten eine Operation? Was sollte dabei beachtet werden?
Zunächst gibt es klare, harte Kriterien für eine Operation. Dazu zählen neurologische Defizite mit Lähmungen, aufsteigende Infektionen oder ein sogenanntes Conus-Cauda-Syndrom mit Störungen der Blasen-/Mastdarmfunktion. Dies macht einen sofortigen chirurgischen Eingriff erforderlich. Diese Situationen sind meist akut und erfordern eine rasche Entscheidung, um schwerwiegende und dauerhafte Schäden zu vermeiden.
Neben diesen eindeutigen Indikationen gibt es auch sogenannte „weichere“ Kriterien für eine Operation. Hierzu zählt beispielsweise wenn die Patienten auch nach mehreren Wochen oder Monaten von umfassend durchgeführte konservativer Therapie nach wie vor Schmerzen angeben die nicht mit einer adäquaten Lebensqualität vereinbart werden können und für die Patienten nicht mehr tolerabel sind. Auch dann sollte man sich überlegen, ob den Patienten nicht durch einen operative Eingriff Abhilfe von diesen Beschwerden geschaffen werden kann.
Ein Beispiel hierfür ist der aktuelle Fall einer schwangeren Patientin, die trotz der Einnahme starker Schmerzmittel wie Tramadol oder Novalgin weiterhin starke Schmerzen erleidet, die ihren Schlaf, ihre Lebensqualität sowie möglicherweise auch die fortschreitende Schwangerschaft beeinträchtigen. In solchen Fällen muss sorgfältig abgewogen werden, ob bei diesen langen und quälenden Schmerzen und Ausschöpfung der konservativen Maßnahmen eine Operation vielleicht sogar die beste Option ist. Dieser Fall wurde kürzlich vom BR verfilmt.
In unserem Zentrum ist es wichtig, dass jeder Patient individuell betrachtet und gehört wird und konservative Methoden ausgeschöpft werden. Bei einer Operation bemühen wir uns, möglichst minimaloperativ vorzugehen. Bei bestimmten Erkrankungen wie etwa Instabilitäten oder Deformitäten wie bei Skoliosen oder Wirbelgleiten müssen jedoch stabilisierende Verfahren in Erwägung gezogen werden.
Was sind die Besonderheiten bei einer minimalinvasiven Wirbelsäulen-OP? Wie wird diese durchgeführt?
Die minimalinvasive Wirbelsäulenoperation ist ein hochspezialisiertes Feld. Dabei können unter anderem die beiden Techniken Endoskopie sowie Mikrochirurgie unterschieden werden. Bei der minimalinvasiven Wirbelsäulenchirurgie werden die operativen Eingriffe über kleine Hautschnitte durchgeführt. Hierdurch wird das Trauma für den Körper reduziert und die Erholungszeit Für die Patienten deutlich verkürzt. Diese Technik kann bei vielen verschiedenen Eingriffen angewendet werden bei der es zu Schmerzen durch Kompression auf die Nerven kommt. Neben Bandscheibenoperationen zählen hierzu zum Beispiel auch der enge Wirbelkanal. Diese Eingriffe können an der Hals-, Brust- und der Lendenwirbelsäulesowie durchgeführt werden.
Bei Wirbelkörperbrüchen („Frakturen“) kann der Wirbelkörper durch Knochenzement minimalinvasiv verstärkt werden (sogenannte „Vertebroplastien“ oder „Kyphoplastien“). Wenn jedoch ein Wirbelkörper stark durch ein Trauma oder durch einen Tumor zerstört wurde und stabilisiert werden muss, so können auch diese Eingriffe heutzutage weniger invasiv durchgeführt werden. Auch der vollständige Ersatz eines vollständig zerstörten Wirbelkörpers erfolgt heute über kleinste Hautschnitte im Bereich des Thorax im Rahmen von sogenannten thorakoskopische Eingriffen im Brustraum, bei denen wie mit JoyStick von außen operiert wird.
Die Wirbelsäulenchirurgie wird dabei häufig unterstützt durch den Einsatz der sogenannten Navigationstechnologie. Diese erhöht die Sicherheit für den Patienten erheblich. Computersysteme zeigen dabei ganz genau, wo der Schnitt platziert werden muss. Diese präzise Platzierung wird durch spezialisierte Navigationstools wie optische Navigationssysteme oder elektromagnetische Navigationssysteme ermöglicht. Diese Systeme leiten den Chirurgen während des Eingriffs, reduzieren die Strahlenbelastung und erhöhen somit die Sicherheit für den Patienten. Zusammenfassend ermöglichen diese Techniken es uns, sehr präzise und schonend zu operieren, was zu einer schnelleren Erholung und weniger Komplikationen führt.
Was sind die Vorteile von minimalinvasiven Operationen? Was beobachten Sie im Alltag bei Ihren Patienten?
Die Vorteile von minimalinvasiven Operationen sind vielfältig und werden im klinischen Alltag regelmäßig beobachtet. Einer der Hauptvorteile ist die Reduktion des Blutverlusts während des Eingriffs. Gleichzeitig wird das Gewebetrauma reduziert, was zu weniger Wundschmerzen führt. Diese Aspekte ermöglichen es den Patienten, schneller mobilisiert zu werden, was einen wichtigen Faktor in der Erholungsphase darstellt. Darüber hinaus ist die stationäre Verweildauer nach minimalinvasiven Eingriffen in der Regel kürzer, was für die Patienten von Vorteil ist.
Das Risiko von Infektionen und/oder Wundheilungsstörungen wird durch die nur kleinen Hautschnitte im Vergleich zu sogenannten „offenen Verfahren“ nochmals deutlich reduziert.
Aus praktischer Sicht bieten minimalinvasive Operationen den Vorteil, dass die Operateure besser sehen und gezielter vorgehen können. Durch kleinere Schnitte müssen weniger Strukturen entfernt oder verschoben werden, was das Risiko von Schäden an umliegenden Geweben verringert. Dies ist insbesondere von Vorteil bei kräftigen oder adipösen Patienten.
Tatsächlich profitiert aber nahezu jeder Patient von der geringeren Invasivität dieser Eingriffe, unabhängig von seinem individuellen Gesundheitszustand oder der körperlichen Verfassung. Dazu gehören sowohl Leistungssportler, aber auch ältere Patienten die schneller wieder zu ihren Aktivitäten zurückfinden können.
Wie lange dauert die Heilung nach einer minimalinvasiven Wirbelsäulen-OP?
Die Dauer der Heilung nach einer minimalinvasiven Operation variiert je nach Art des Eingriffs und dem individuellen Patienten. In der Regel ist jedoch eine schnellere Genesung im Vergleich zu herkömmlichen Operationen zu beobachten. Dies ist ein weiterer Grund, warum minimalinvasive Eingriffe zunehmend als bevorzugte Option für viele chirurgische Eingriffe gelten.
Wie sehen Sie die Zukunft von minimalinvasiven Operationen? Welche Fortschritte sind zu erwarten?
Die Zukunft der minimalinvasiven Operationen ist äußerst vielversprechend und wird voraussichtlich durch weitere bedeutende Fortschritte geprägt sein. Ein wesentlicher Aspekt ist die Weiterentwicklung in der Diagnostik. Denn: Je mehr wir sehen und verstehen können, desto präziser und effektiver werden unsere Diagnosen und sich hieraus ableitenden Therapien sein. Hierbei spielt die künstliche Intelligenz (KI) eine entscheidende Rolle.
Ein weiterer spannender Bereich ist die Robotik. Ich bin der festen Überzeugung, dass Robotertechnologie in der Chirurgie zukünftig eine noch größere Rolle spielen wird. Roboter können viele Prozesse sicherer und genauer ausführen. Bei vielen chirurgischen Maßnahmen entscheidet oft die Lernkurve des Chirurgen. Dies bedeutet, dass der Chirurg sich das Wissen, Erfahrung und Können über viele Jahre aneignen muss. Ein Robotiksystem muss das nicht. Technologien, die eine präzise Navigation ermöglichen, werden die Sicherheit und Genauigkeit bei Operationen zudem weiter erhöhen.
Eine weitere spannende Entwicklung ist die Zellforschung. Durch das tiefere Verständnis zellulärer Prozesse können insbesondere auch in Gebieten wie der Tumorbehandlung und Onkologie Fortschritte erzielt werden. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit wird hierbei essenziell sein, um die besten Ergebnisse für die Patienten zu erzielen.