Prof. Dr. med. Yu-Mi Ryang, erfahrene Neurochirurgin am Helios-Klinikum Berlin-Buch, hat sich intensiv mit der Behandlung von Wirbelsäulentumoren auseinandergesetzt. In unserem Interview spricht sie über die Herausforderungen dieses Spezialgebiets und führt uns zu neuen Methoden wie "Augmented Reality" sowie neuen Materialien bei der Stabilisierung der Wirbelsäule.
Chefärztin Klinik für Neurochirurgie & Zentrum für Wirbelsäulentherapie
Prof. Dr. med. Yu-Mi Ryang ist eine renommierte Neurochirurgin und aktuell als Chefärztin der Klinik für Neurochirurgie sowie des Zentrums für Wirbelsäulentherapie am Helios-Klinikum Berlin-Buch tätig. Ihre medizinische Ausbildung begann sie 1992 an der Ruhr-Universität Bochum, wo sie auch promovierte. Nach ihrer Facharztausbildung in Neurochirurgie, die sie 2005 abschloss, habilitierte sie an der Technischen Universität München mit einer Arbeit zu neuroprotektiven Effekten und Signalwegen neuer Therapeutika bei Hirnläsionen. Ihre berufliche Laufbahn umfasst Stationen als Oberärztin und stellvertretende Leitung der Neurochirurgie am Klinikum rechts der Isar, TU München. Zusätzlich zu ihrer klinischen Expertise verfügt Prof. Dr. Ryang über spezialisierte Zertifikate im Bereich Wirbelsäulenchirurgie sowie neurochirurgischer Onkologie.
Frau Prof Ryang, Ihre besondere Spezialisierung gilt Wirbelsäulentumoren. Was hat Sie dazu bewogen, sich auf die Behandlung von Wirbelsäulentumoren zu spezialisieren?
Meine Spezialisierung auf Wirbelsäulentumore war ursprünglich eher unfreiwillig. Meine Interessen lagen eigentlich zunächst in der Neuroonkologie, aber durch die Ausrichtung meiner damaligen Klinik sowie die Zusammenarbeit mit verschiedenen Arbeitsgruppen hat sich mein Fokus allmählich verschoben. Ich habe in diesem Bereich auch eine Förderung erfahren, sei es etwa durch Kurse oder Mitgliedschaften in den entsprechenden Fachgesellschaften. Mich hat aber insbesondere die Komplexität und Vielseitigkeit der Wirbelsäulenchirurgie fasziniert. Je tiefer man in dieses Thema einsteigt, desto mehr bemerkt man, wie unglaublich komplex die Wirbelsäulenchirurgie ist. Insgesamt wird die Wirbelsäulenchirurgie oft unterschätzt und belächelt, insbesondere wenn es um scheinbar alltägliche Eingriffe wie Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule (sog. degenerative Wirbelsäulenerkrankungen) geht. Hervorragende operative Ergebnisse zu erzielen, bedarf sehr viel Wissen und operativer Erfahrung.
Bei vielen Operationen, sei es nach Frakturen oder auch bei Wirbelsäulentumoren, muss die Stabilität der Wirbelsäule gewährleistet werden. Wie gehen Sie dabei vor?
In der Tat. Die Gewährleistung der Stabilität der Wirbelsäule nach Operationen, sei es bei Frakturen oder bei Wirbelsäulentumoren, ist ein zentraler Aspekt. Traditionell haben wir für diese Zwecke Implantate aus Titanlegierungen verwendet. Diese Materialien bieten zwar eine hervorragende Stabilität, führen jedoch bei der bildgebenden Verlaufskontrolle zu Schwierigkeiten. Insbesondere im CT und MRT können durch die Metallimplantate viele Artefakte entstehen, was die Erkennung von Rezidivtumoren erschwert (Anm. d. Red.: Bei einem Rezidivtumor handelt es sich um einem gleichen Tumor, der an der Stelle der Operation erneut entsteht).
Aufgrund dieser Herausforderungen sind wir dazu übergegangen, insbesondere bei Tumoren mit guter Prognose, Carbon-Implantate einzusetzen. Diese Implantate verursachen keine Artefakte oder Auslöschungserscheinungen in den MRT-Aufnahmen, was die postoperative Bildgebung erheblich verbessert. Ich habe persönlich in Zusammenarbeit mit der Firma Icotec an der Entwicklung dieser Implantate mitgewirkt. Seit etwa 7-8 Jahren entwickeln und implementieren wir Wirbelkörpersätze und andere Systeme aus Carbon.
Zudem entwickeln wir in Kooperation mit internationalen Wirbelsäulengesellschaften ein reines Carbon-System für die Halswirbelsäule. Ein derartiges System gibt es bislang noch gar nicht. Dabei geht es uns auch darum, die Anwendung auf unsere Indikationen auszuweiten, etwa bei osteoporotischen Frakturen.
Worin sehen Sie die großen Vorteile von Carbon-Implantaten?
Insbesondere sind die Vorteile bei der Bildgebung zur Verlaufskontrolle nach der Operation sowie bei der Bestrahlungsbehandlung zu nennen. Bei Wirbelsäulentumoren müssen regelmäßig auch nach der Operation erneute Bildkontrollen erfolgen. Bei diesen Bildkontrollen sind bei Carbon-Implantaten deutlich weniger Artefakte zu sehen. Das Tumorgebiet kann also deutlich besser beurteilt werden. Zudem bieten Carbon-Implantate auch Vorteile bei der Bestrahlung. Bei primären Wirbelsäulentumoren wird meist eine Protonen-/Partikelbestrahlung durchgeführt. Diese Art der Bestrahlung kann bei Titan-Implantaten nicht mehr durchgeführt werden. Aber auch bei der klassischen Strahlentherapie haben wir in einer Studie an der TU München festgestellt, dass Carbon-Implantate eine homogenere und besser steuerbare Dosisverteilung ermöglichen.
Sie haben eine beeindruckende Laufbahn hinter sich. In welchen Bereichen der Neurochirurgie sehen Sie aktuell die spannendsten Neuerungen?
In der Neurochirurgie hat sich in den letzten Jahren bei den Operationsmethoden einiges getan. Sehr spannend ist jedoch auch der Bereich von Augmented Reality (AR), Mixed Reality (MR) sowie Künstlicher Intelligenz in der Anwendung in der Neurochirurgie. Alle diese Methoden haben ihre Anwendungsfelder und sicherlich Zukunft in der Medizin. Diese Technologien haben sich in einem rasanten Tempo entwickelt und sind zunehmend kostengünstiger geworden, was sie zu einem wertvollen Werkzeug in unserem chirurgischen Repertoire macht.
Auf der anderen Seite stehe ich dem Einsatz von Robotern in der Neurochirurgie aktuell eher skeptisch gegenüber. Obwohl Roboter zweifellos Potenzial bieten, hat ihre Entwicklung in den letzten zehn Jahren nicht die Fortschritte gemacht, die wir erhofft hatten. Sie sind, was ihren Einsatzbereich betrifft, auf wenige OP-Schritte beschränkt und immer noch sehr platz- und kostenintensiv, was ihren Einsatz in vielen klinischen Settings schwierig macht.
Ein weiterer sehr spannender Bereich ist die neuroonkologische Immuntherapie. Hier gibt es innovative Ansätze, wie die Verwendung von Checkpoint-Inhibitoren, die darauf abzielen, das Immunsystem zu aktivieren, um bösartige Tumore effektiver zu bekämpfen. Obwohl diese Therapieansätze vielversprechend sind, stehen wir noch am Anfang, da es bisher noch an umfassenden wissenschaftlichen Fortschritten und Studien mangelt, die eine breite Anwendung in der Praxis rechtfertigen würden.
Wie beurteilen Sie minimalinvasive Verfahren und inwiefern profitieren Patientinnen und Patienten davon?
Die minimalinvasiven Verfahren sind bei Wirbelsäuleneingriffen ein großer Vorteil für die Patienten. Etwa bei der Kyphoplastie, einem Verfahren, das bei Patienten mit osteoporotischen und pathologischen Frakturen zur Stabilisierung, Wiederaufrichtung und v.a. Schmerztherapie angewandt wird. Auch bei Wirbelsäulenmetastasen setzen wir auf minimalinvasive Techniken, wobei hier Ergebnisse guter randomisierter klinischer Studien noch fehlen.
Die klassischen Vorteile dieser Methoden sind kleinere Wunden, weniger Blutverlust, geringere Schmerzen und ein reduziertes Infektionsrisiko. Diese Vorteile sind für die Patienten enorm, insbesondere für Tumorpatienten, bei denen eine schnelle Durchführung adjuvanter Therapien notwendig ist. Durch die minimalinvasiven Eingriffe können wir die Patienten schneller mobilisieren und viel früher einer Bestrahlungstherapie zuführen.
Zusätzlich bieten diese Verfahren die Möglichkeit, auch solche Patienten operativ zu versorgen, die aufgrund ihres Alters oder ihrer gesundheitlichen Verfassung für eine offene Operation nicht infrage kommen. Dies eröffnet auch sehr alten oder kritisch kranken Patienten eine Chance auf Behandlung, was bei traditionellen Methoden oft nicht möglich wäre.
Sie setzen Augmented Reality bei minimalinvasiven Operationen ein. Wie funktioniert das und wie kann man sich den Einsatz im OP vorstellen?
In unserer Abteilung setzen wir Augmented Reality (AR) speziell für minimalinvasive stabilisierende Operationen an der Wirbelsäule ein, etwa bei Tumorerkrankungen oder Verletzungen der Wirbelsäule. Durch die AR-Technologie wird die chirurgische Präzision enorm gesteigert. Wir verwenden ein handelsübliches Tablet, auf dem eine spezialisierte Software läuft, um die präzise Positionierung und Krümmung der einzusetzenden Stäbe, virtuell darzustellen.
Die Vorgehensweise ist relativ einfach: Während der Operation werden über das Tablet die virtuellen Schrauben und Stäbe auf das reale Operationsfeld überlagert. Das System erlaubt es, innerhalb weniger Minuten, die exakte Positionierung, den idealen Krümmungsradius und Länge der Stäbe zu bestimmen, was ohne AR selbst für sehr erfahrene Chirurgen eine Herausforderung darstellen kann.
Diese Technologie reduziert die Häufigkeit von Komplikationen, wie das Ausreißen oder Lockern von Schrauben, die im Verlauf zu Beschwerden führen können. Die AR ermöglicht es uns, die chirurgischen Eingriffe individuell für jeden Patienten in Echtzeit zu konfigurieren und anzupassen.
Die Anwendung von AR im Operationssaal ist wirklich erstaunlich und revolutioniert die Art und Weise, wie wir chirurgische Eingriffe durchführen, indem sie die Sicherheit und Genauigkeit des Verfahrens enorm verbessert.
Was macht ihre Abteilung in Berlin-Buch besonders?
Unsere Abteilung für Neurochirurgie steht für eine Versorgung auf dem Niveau einer Universitätsklinik. Wir orientieren uns konsequent an der aktuellen, evidenzbasierten Forschung, was sich in unseren Therapieansätzen und chirurgischen Techniken widerspiegelt. Zwar bieten wir sehr spezielle Verfahren wie etwa die tiefe Hirnstimulation sowie die periphere Nervenchirurgie nicht an, jedoch decken wir darüber hinaus das gesamte Spektrum der neurochirurgischen Behandlungen ab, insbesondere natürlich in den Bereichen Wirbelsäulenchirurgie und neuroonkologische Versorgung. Ein wesentliches Merkmal unserer Klinik ist die Behandlung von Wirbelsäulentumoren und -metastasen. Dazu auch komplexe osteoporotische Frakturen, Spondylodiszitis (Anm d. Red.: Eine Spondylodiszitis ist eine Entzündung im Bandscheiben- und Wirbelkörperbereich). Des weiteren operieren wir jegliche Erkrankung des Gehirns von Gefäßmissbildungen, über Hirnmetastasen bis hin zu hirneigenen Tumoren inklusive Tumoren der Hirnanhangsdrüse (sog. Hypophysenadenome) und Schädelbasistumoren.